Im Schatten Bertolt Brechts

Im Schatten Bertolt Brechts

Inhaltlich beziehen sich die Dramen der 1950er Jahre in erster Linie auf die neuen Produktionsverhältnisse in Stadt und Land. Was die Inszenierung und Schreibweise betrifft, handelt es sich meistens um Auseinandersetzungen mit Brechts Theatertheorie. Brecht, der mit seinem epischen Theater Generationen von Dramatikern, Regisseuren und Lyrikern beeinflusst hat – es sei hier u.a. auf E. Strittmatter, M. Frisch, P. Weiss, H. Bunge, Heiner Müller, P. Hacks, H. Lange, G. Strehler, E. Monk, B. Besson, K. Mickel, Volker Braun, Wolfgang Biermann hingewiesen –, hatte sich inzwischen in Ost-Berlin niedergelassen, wo er mit dem im Zeichen der frei experimentierenden Theaterarbeit stehenden Berliner Ensemble verschiedene seiner eigenen frühen Stücke realisiert und Vorlagen anderer, vor allem klassischer aber auch zeitgenössischer Autoren bearbeitet und zur Aufführung bringt. Von den eigenen neuen Stücken führt er nur das Lustpiel Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher (Sommer 1953) auf. Mit seinem international sehr erfolgreichen Ensemble gelingt es ihm, eine Widerspruchskultur zu etablieren, die ästhetisch an die Experimente der Weimarer Zeit anknüpft und eine gesellschaftliche Umwälzung anpeilt. Im Gegensatz zum herkömmlichen Theater, in dem sich Darsteller und Zuschauer kritiklos mit den dargestellten Figuren identifizieren, steht der Darsteller im sogenannten „epischen Theater“ über seiner Rolle. Er appelliert nicht an das Gefühl, sondern an den Verstand des Zuschauers, der dazu animiert werden soll, sich kritisch mit dem Dargebotenen auseinander zu setzen. Die ständige Distanz zu den Vorgängen auf der Bühne erreicht Brecht durch den sogenannten Verfremdungseffekt (den V-Effekt).

In den 1950er Jahren ist das Thema der neuen Produktion auf dem Lande besonders beliebt, und zwar weil die durch die Bodenreform eingetretenen Veränderungen auf dem Land für den Betrachter einfacher zu überblicken und somit literarisch leichter darzustellen sind, als die Veränderungen im industriellen Bereich. Neben Helmut Sakowski, Paul Freyer, Fred Reichwald, Hedda Zinner schreibt auch Helmut Baierl auf moralischen Argumenten basierende Landstücke, in denen eine in sich geschlossene und von Klassenkonflikten belastete Gesellschaft zur Schau gestellt wird. In Stücken wie Die Feststellung (1958) und Frau Flinz (1961) geraten Helden mit kleinen Makeln in einen Schein-Konflikt, der dann dialektisch scheinbar gelöst wird. Dass nicht jeder Dramatiker in der DDR bereit ist, sich mit einer derartigen verharmlosenden Dialektik abzufinden, zeigen nicht nur Stücke wie die Komödie Moritz Tassow (1961) von Peter Hacks, der erst 1955 auf Einladung Bertolt Brechts in die DDR kommt, und das auf einem authentischen historischen Vorgang der Jahre 1948-1949 basierende Stück Der Lohndrücker (1956) von Heiner Müller (1929-1995), das sich – so Wolfgang Emmerich – als „das beste Stück über die ersten Aufbaujahre des Sozialismus erwiesen“ hat. Heiner Müller, der wie Baierl, Hacks und später auch Hartmut Lange, in Brecht seinen bedeutendsten Lehrer hat, schildert in seinen ersten Stücken immer wieder die konfliktreiche Bewusstseinsbildung während der Aufbauphase. Er fragt sich immer wieder, wie sich die Normen des neuen Systems auf die Menschen auswirken und deckt den Konflikt zwischen den individuellen Ansprüchen und dem, was die Gesellschaft für notwendig erklärt, auf. In den sechziger Jahren wendet sich Heiner Müller verstärkt historischen und mythologischen Stoffen zu.

Quellen

Abou-Seber, Ali. 1995. Theorie und Praxis politischen Theaters im Spätwerk Bertolt Brechts. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang.

Barton, Brian. 1987. Das Dokumentartheater. Stuttgart: J.B. Metzler.

Emmerich, Wolfgang. 1996. Kleine Literaturgeschichte der DDR. Leipzig, 1996.

Fischer, Matthias-Johannes. 1989. Brechts Theatertheorie. Forschungsgeschichte – Forschungsstand – Perspektiven. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang.

Hinck, Walter 1973. Das moderne Drama in Deutschland. Vom expressionistischen zum dokumentarischen Theater. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Steinweg, Reiner. 1995. Lehrstück und episches Theater. Brechts Theorie und die theaterpädagogische Praxis. Frankfurt am Main. Brandes & Apsel.

Zimmermann, Hans Dieter. 2000. Literaturbetrieb Ost-West. Die Spaltung der deutschen Literatur von 1948 bis 1998. Stuttgart u.a.: W. Kohlhammer.