Montag, 13. Dezember 2010

DER SPIEGEL



SCHRIFTSTELLER

Sieh an, das Scheusal hat Talent!

Von Jenny, Urs

Bertolt Brecht gilt rund um die Welt als erfolgreichster Dramatiker dieses Jahrhunderts. Deutschland hat ihn verjagt, Deutschland hat ihn zerrissen - zum 100. Geburtstag streiten die Deutschen nun um seine "schweinischen Methoden" in Vertragsdingen wie Liebesbeziehungen. Von Urs Jenny

Sein Herz schlug immer zu schnell, und sein Leben war eine Hetze, auch wenn er wohl nie so ganz mittellos war, wie er sich gern gab. "Ohne Hitler wäre aus Brecht nicht Brecht geworden", hat sein Nachfahr Heiner Müller gesagt. Als er eben im Licht seines ersten wirklichen, riesigen Erfolgs, der "Dreigroschenoper", hätte durchatmen können, mußte er aus dem Land fliehen, 1933, gleich am Morgen nach dem Reichstagsbrand: Deutschland hat ihn die produktivsten anderthalb Lebensjahrzehnte lang, vom 35. bis in das 50. Jahr, seiner Wirkungsmittel und Möglichkeiten und seines Publikums beraubt. Dies, mehr als jeder andere Umstand, begründet die eigentümliche Unfertigkeit seines Werks.

1935 wurde er ausgebürgert, und als er heimkehrte, hat er die Staatsbürgerschaft nicht zurückverlangt, vielmehr mit List 1950 die österreichische ergattert. Im Westen waren, was den Kulturbetrieb angeht, die Mitläufer längst wieder obenauf und stifteten Kontinuität; im Osten gaben die überlebenden Emigranten aus Moskau mit ihren Kunst-Dogmen des "Sozialistischen Realismus" den Ton an. Dennoch bot man Brecht im Osten die Chance, seine Vorstellungen von einem neuen Theater, sein "Berliner Ensemble" in Wirklichkeit umzusetzen.

Im Bonner Bundestag wurde er von einem Minister mit dem SA-Barden Horst Wessel verglichen, in der DDR ließ er sich widerwillig zu einer Art Staatskünstler hochfeiern. Deutschland hat ihn erschöpft; die insgeheime Enttäuschung darüber, wie schnell und schrecklich auch das ersehnte andere Deutschland mißriet, hat an ihm gefressen; von seinem vorzeitigen Tod, Folge eines Infarkts mit erst 58 Jahren, läßt sich angemessen pathetisch sagen: Deutschland hat ihm das Herz gebrochen. Er war ein großer Dichter, und er war ein armer Hund.

Wenn er vor das Totengericht tritt, wie er sich das in einer späten Oper für den römischen Kriegsherrn Lukullus ausgemalt hat, wird für ihn ein Lebenswerk von durchaus einzigartiger Kraft, Fülle und Wirksamkeit sprechen. Die andere Waagschale wird die brutale Egomanie belasten, mit der er - besonders gegenüber den ihn liebenden Nächsten - dieses Werk einer widrigen Zeit abtrotzte, die doch nicht für alles ein mildernder Umstand sein kann.

Und am schwersten wird letztlich vielleicht - da er seine Stimme so leidenschaftlich gegen Hitler erhob - sein Schweigen wiegen, sein Schweigen vor Stalin. Ins Tagebuch schrieb er 1943: "Im Faschismus erblickt der Sozialismus sein verzerrtes Spiegelbild. Mit keiner seiner Tugenden, aber allen seinen Lastern." Doch das behielt er für sich, und auch als längst keine Illusion mehr möglich war, nannte er Stalin nur im Freundeszirkel den "verdienten Mörder des Volkes".

Das Brecht-Jahr kommt! Wach auf, du Christ! Der Schnee schmilzt weg. Die Toten ruhn. Und was noch nicht gestorben ist, das macht sich auf die Socken nun!

Die beispiellose multimediale Brecht-Großoffensive auf dem öffentlich-rechtlichen 3Sat-Kanal ist längst in Gang; der Suhrkamp Verlag meldet die Vollendung der 30 Schwarten schweren "Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe"; die Brecht-Erben fahren ein letztes Mal eine Rekordernte in ihre Tantiemen-Scheunen ein; und die vorlaute Frage "Welcher Brecht ist denn heute zu feiern?" wird in Jubelwogen ersäuft. Naturgemäß tun sich besonders die Brecht-Städte Augsburg und Berlin durch Aufwand hervor. Bei der Totenfeier vor 42 Jahren sprach Walter Ulbricht, beim Geburtstagsfest nun am 10. Februar in der Akademie der Künste gibt sich Roman Herzog die Ehre.

Im schwäbischen Pfullingen jedoch hat man listigerweise das Brecht-Jubiläum schon 1997 gefeiert. Die Eheleute Berthold und Sofie Brecht nämlich, so die Begründung, hätten sich gleich nach ihrer Trauung am 15. Mai 1897 nach Pfullingen begeben; folglich dürfe das Städtchen sich rühmen, der Ort zu sein, wo der Dichter gezeugt wurde, der dann am 10. Februar 1898 in Augsburg das Licht der Welt erblickte. "Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern", bestätigt ja ein berühmtes Gedicht diese Genesis: "Meine Mutter trug mich in die Städte hinein / Als ich in ihrem Leibe lag."

Getauft wurde er (evangelisch, wie die Mutter) auf die Namen Eugen Berthold Friedrich, hieß aber im Familien-, Mitschüler- und Freundeskreis immer nur Eugen (der Wohlgeborene). Seine erste Pennä- lerlyrik veröffentlichte der 15jährige als Berthold Eugen in einer selbstgegründeten Schülerzeitschrift (deren Hefte nun als Jubiläumsdevotionale faksimiliert wiedererscheinen). Als 18jähriger dann zeichnete er seine Gedichte mit dem schnittigen "Bert Brecht". Da war der Tonfall schon unverkennbar, diese raffinierte Naivität, diese ganz eigene Frechheit, diese farbige, satte, aus Volkslied und Lutherbibel, aus Gassenhauer und Rimbaud-Pathos genährte Expressivität. Die Frühreife ist grandios, mit unwiderstehlichem Schwung hatte Brecht schon, als er Mitte 20 war, ein gut Teil dessen hervorgebracht, was ihn zu einem der vitalsten und sprachmächtigsten deutschen Lyriker dieses Jahrhunderts macht.

Die Stadt Augsburg hat bereits 1995 durch Ausrufung eines Brecht-Festjahres kundgetan, daß alle Verfemung vergessen sei, die man auch dort lange gegen den mißratenen großen Sohn - Nestbeschmutzer! Kommunist! Vaterlandsloser Geselle! - gehegt und durch einen Boykott seiner Stücke bekundet hatte. Augsburg läutet natürlich nun abermals ein Bertolt-Brecht-Jahr mit gut hundert Veranstaltungen ein, zu dessen Höhepunkten gewiß die Verleihung des Bertolt-Brecht-Preises zu zählen sein wird. Das Jahr 2000 will die Stadt im Zeichen Goethes feiern, doch für 2001 ist abermals ein Brecht-Jahr angesagt. Er selber hat ja in frühem Augsburger Überschwang prophezeit: "Mein Werk ist der Abgesang des Jahrtausends" - das wird dann retrospektiv zu überprüfen sein.

Ein durch Zufall erhaltenes Tagebuch des 15jährigen, von ihm als "Tagebuch No. 10" etikettiert, meldet schon am ersten Tag: "Habe wieder Herzbeschwerden!" Das Leiden kannte man; er wurde deshalb mehrfach zur Kur geschickt; auch spätere Bettgefährtinnen haben die Krämpfe und das panische Herzrasen beschrieben, das ihn manchmal mitten in der Nacht überfiel. Ob jedoch dieses "nervöse Leiden" (so der Hausarzt) organischer Art war, ist ungewiß. Es könnte ebensogut die Urangst eines verlassenen Kindes gewesen sein, die da aus Alptraum-Abgründen hervorbrach; jedenfalls half lindernd am ehesten körperwarme Zuwendung.

Sonst war er berührungsscheu. Den Tod hat er nicht einmal auf der Bühne gern gesehen, und wie die Herz-Obsession ihn das Leben lang festhielt, bezeugt ein letzter Wunsch: Man solle ihm im Sarg das Herz mit einem Stilett durchstoßen, damit er ganz bestimmt nicht lebendig begraben werde. Alles spricht dafür, daß (zumindest in diesem Punkt) sein Wille geschah.

Ein literarisches Lebenswerk, in dem es an Vaterbildern mangelt, dafür imposante Mutterfiguren (von der "Mutter", der "Mutter Courage" und dem "Kaukasischen Kreidekreis" bis zur Bearbeitung von Shakespeares Mutter-Sohn-Drama "Coriolan") die Szene beherrschen, lenkt Interesse auch auf die Eltern des Autors. Der Vater, ein Gründerzeit-Aufsteiger, wie er im Buche steht, arbeitete sich im Gang zweier Jahrzehnte vom Kommis zum kaufmännischen Direktor einer Papierfabrik empor. Bücher (außer der Bibel) gab es wohl dennoch nicht im Haus. Seinem Kulturbedarf genügte der Gesangverein, doch schaffte er standesgemäß für die beiden Söhne ein Klavier an und verfolgte die literarischen Ambitionen des Älteren mit Nachsicht, auch wenn er sie nicht verstand.

Die Mutter hingegen scheint sich nie aus den engen Verhältnissen ihrer Schwarzwälder Herkunftswelt befreit zu haben; auch in den liebevollen Memoiren des jüngeren Sohns Walter bleibt sie eine passive, blasse Figur. Sie kränkelte früh und so ständig, daß schon 1910 eine Haushälterin das Regime übernahm; sie siechte, zunehmend mit Morphium versehen, ein Jahrzehnt lang an Krebs dahin. Am Abend nach ihrem Tod soll der Sohn Eugen, 22, der sich nun Bert nannte, in seiner Bude unter dem Dach wie so oft mit Freunden gezecht haben; vor der Beerdigung machte er sich mit seinen Gefühlen spurlos davon. Er ertrug und verzieh es schwer, verlassen zu werden. Später schrieb er über die Mutter: "Ich liebte sie auf meine Weise, aber sie wollte auf die ihre geliebt sein."

Der Literaturwissenschaftler Jürgen Manthey hat in sein jüngstes, erkenntnisreiches Buch "Die Unsterblichkeit Achills" ein Brecht-Kapitel eingefügt: Da wird der schreckliche Vereinfacher Brecht schrecklich vereinfacht auf die Figur eines Muttersöhnchens, das untröstlich aller Welt nur immer vorwirft, daß es an der Brust seiner Mutter nie satt geworden sei.

In der Tat sind Brechts überlebensgroße Muttergestalten, die sprichwörtliche "Mutter Courage" vorneweg, nicht nur Gebärerinnen, sondern ebenso Vernichterinnen ihrer Kinder. Und die Vielfraß- und Kraftmeier-Figuren wiederum, die sich mit ihren oralen Riesenbedürfnissen auf seiner Bühne plustern - vom ersten Dramenhelden Baal bis zum kapitalistischen Nimmersatt Mauler, dem Genußmenschen Galileo und dem Mords-Saufkopf Puntila -, sind keineswegs Selbstbildnisse, vielmehr Wunschkörper. "Große Appetite gefielen mir sehr", hat er einmal gestanden - doch er selber hatte keinen, "da mein Magen zu klein war". Immerhin: Den Urwunsch des im Stich gelassenen Kindes, das sich in allmächtiger Rachsucht einfach alle Welt tot wünscht, hat niemand wie er in einen Schlagertext zu verwandeln gewußt - in die Ballade von der Seeräuber-Jenny, die bekanntlich auf die Frage "Welchen sollen wir töten?" eiskalt antwortet: "Alle."

Seiner großen Gymnasiastenliebe Paula, genannt Bi, hat er ein gutes Jahr lang mit Handküssen und Galanterien hartnäckig den Hof gemacht, bis sie sich verführen ließ. Doch danach waren die Fortschritte rasch. Er eroberte 1919 (als Bi ihm gerade seinen ersten, zu Wedekinds Ehren Frank getauften Sohn geboren hatte) die glamouröse junge Sängerin Marianne Zoff vom Augsburger Stadttheater, genannt Mar. Und bald entwickelte er mit der Gerissenheit eines triebhaften Heiratsschwindlers sein System, in wackligem Gleichgewicht stets mehrere Affären nebeneinander in Gang zu halten und dabei die diversen Geliebten auch noch mit rasender Eifersucht zu tyrannisieren. Er nahm gern und gab wenig. Wenn er sehr verliebt war, schenkte er der Frau ein Ringlein sowie sehr feierlich ein Stück vom Himmel - einer den Orion, einer anderen die Kassiopeia.

Der junge, programmatisch verwahrlost auftretende Brecht war "weder fesch noch gutaussehend" (so Paula Banholzer), vielmehr ein "überaus ungepflegtes" und "spindeldürres Männlein" (so Marianne Zoff), dabei einerseits unendlich bemutterungsbedürftig, andererseits ein Draufgänger, der in seiner Eroberungsgier "unversehens ohne Vorwarnung einfach auf einen einhieb". Doch er besaß, trotz der rauhen Stimme und dem knarrenden R, eine hypnotische Verführungs- und Verzauberungsmacht. Frauen wie Männer erlagen ihm, wenn er wirklich wollte. Die Tochter Barbara hat in einem späten Interview, das auch Jähzorn und Rücksichtslosigkeit des Vaters nicht unterschlägt, diesen Zauber liebevoll in ein Bild gebracht: "Der konnte die Vögel von den Bäumen charmieren."

Als ihn endlich einmal Bi und Mar gemeinsam zur Rede stellten, welche er denn nun wirklich zu heiraten gedenke, erklärte er kaltblütig: "Beide!", worauf ihn beide sitzenließen. Natürlich gewann er beide zurück, und als er dann doch nicht die erste heiratete, die schon ein Kind hatte, sondern die zweite, die nun schwanger war, versicherte er der ersten schriftlich, er werde sich gleich wieder scheiden lassen und dann sie heiraten.

Ein halbes Jahr nach der Geburt von Mariannes Tochter Hanne tat er sich in Berlin mit Helene Weigel zusammen, genannt Helli, wollte auf die beiden anderen aber keineswegs verzichten. Als Bi doch zu rebellieren begann, schickte er Helli nach Augsburg mit dem Auftrag, die ewige Braut sofort und ultimativ zur Übersiedlung nach Berlin zu bewegen. Er selber, mit seiner magnetischen Unwiderstehlichkeit, hätte wohl auch dieses Kunststück geschafft - Helli jedoch gelang es nicht (immerhin war sie da selber schon schwanger), und auch die Ehe-Liaison mit der schönen Mar ging irgendwann (nach einer weiteren Schwangerschaft) entzwei. Auch eine lange Liste von Abtreibungen gehört in eine Brecht-Biographie.

Als er dann 1929, ohne Vorwarnung der anderen Bräute, Helene Weigel heiratete, reagierten Elisabeth Hauptmann und die Schriftstellerin Marieluise Fleißer mit je einem Selbstmordversuch, und die schöne Schauspielerin Carola Neher knallte den Blumenstrauß, der sie versöhnen sollte, dem Treulosen um die Ohren. Die Mann-Frau-Beziehung sei, so dozierte Brecht, ein Vertrag, wo meistens der Mann "ungeheuer viel verlangen kann und die Frau ungeheuer viel zugeben muß". Weil Helene Weigel so ungleiche Verhältnisse hinzunehmen verstand, blieb sie trotz schwerer Krisen lebenslang die Hauptfrau. Eine neue Favoritin, Margarete Steffin, die 1931 die Szene betrat, hieß die Weigel im Club der Brecht-Gefallenen mit dem Satz willkommen: "Du tust mir leid, mein liebes Kind."

Gedichte schrieb der junge Brecht mit so leichter Emphase, als würden sie ihm zufliegen; und wenn der Schwung nicht bis ins Ziel reichte, blieben sie oft für immer unfertig liegen. Ausdauer für planmäßige Schreibarbeit jedoch brachte er schwer auf: Sein empfindliches Dichter-Ego brauchte Stimulans und Resonanz, am besten von Zeile zu Zeile, um sich in produktiver Laune zu halten. So scharte er schon früh in seiner Augsburger Mansarde einen Kreis anfeuernder Mitarbeiter um sich. Sie hatten durchaus kreativen Anteil an jenen ersten ungebärdig-genialischen Bühnenstücken, mit denen der junge Draufgänger im schick-schäbigen Proletenlook Anfang der zwanziger Jahre Aufsehen erregte.

Als sich die Freundesclique jedoch auflöste und Brecht an die Eroberung Berlins ging, geriet die Produktion ins Stocken: Er hatte die Pranke zum grandiosen ersten Wurf, nicht jedoch das Sitzfleisch zur Ausarbeitung und Vollendung. Das Dilemma war so offenbar, daß sein Verleger 1924 eine junge Lektorin mit dem einzigen Auftrag anheuerte, den sich verzettelnden Brecht anzutreiben und seine Energien zu bündeln: Elisabeth Hauptmann.

Erst die allmähliche Publikation des Nachlasses hat sichtbar gemacht, welch gewaltige Masse an Fragmenten, Entwürfen, Varianten die Brecht-Werkstatt hervorbrachte. Damals begann Elisabeth Hauptmann als erstes, aus einem Wust von Versionen das "Hauptmannuskript" (so Brecht) der Komödie "Mann ist Mann" herauszuschälen und zu collagieren.

Er machte sie rasch zu seiner Geliebten, und sie machte sich rasch zur - neben Helene Weigel - wichtigsten Frau in seinem Leben: als Stofflieferantin, Ko-Autorin und konstante Kraft im fluktuierenden Mitarbeiter-Kollektiv, als Organisatorin aller Angelegenheiten, um die er sich aus Unlust nicht kümmern mochte (in Berlin wie im amerikanischen Exil), schließlich, lang über seinen Tod hinaus, in Ost-Berlin als Herausgeberin der "Gesammelten Werke".

Aus dem Augsburger Vaterhaus hatte Brecht zu seiner Bequemlichkeit ein junges Dienstmädchen mitgenommen: Es machte Frühstück, hielt das Wohnatelier in Ordnung (und ging 1933 mit der Brecht-Familie ins dänische Exil). Im Atelier schrieb Brecht vormittags mit Elisabeth Hauptmann zusammen und ließ sie dann selbständig weiterarbeiten. Er selbst ging zu Mittagessen und Siesta zu Helene Weigel, deren Wiener Mehlspeisen-Küche ihm die liebste war, und widmete den Rest des Tages (von den üblichen Nebenaffären abgesehen) der Reklame für sich selbst.

Sein heiratsschwindlerisches Überredungstalent nutzte er nicht nur als Schürzenjäger, sondern ebenso im Umgang mit Agenten und Verlegern: Auch sie spielte er gerissen gegeneinander aus. So lebte er prima auf Pump von erschnorrten Vorschüssen auf ungeschriebene Werke und war bald, wenn schon nicht kommerziell erfolgreich, so doch durch Premierenskandale und provokante Auftritte berühmt.

Elisabeth Hauptmann,von ihrem Verlag inzwischen entlassen, drängte Brecht zu marktgängigeren Projekten, indem sie ihm ihre Übersetzung der "Beggar's Opera" des englischen Satirikers John Gay zuschob, woraus die "Dreigroschenoper" entstand. Elisabeth Hauptmann wies auch der Entwicklung seiner Ästhetik einen neuen Weg, indem sie ihn (wieder durch Übersetzungen aus dem Englischen) mit dem japanischen No-Spiel bekannt machte.

Anfangs schattenhaft, in "Mann ist Mann" und im fragmentarischen Riesendrama "Fatzer" erstmals erkennbar, zieht sich durch Brechts frühes Werk zentral ein Menschenopfer-Motiv: die Idee, daß in einer kleinen Gruppe ein einzelner in gemeinsamem Interesse zustimmen müsse, von den anderen getötet zu werden. In einem No-Spiel (dort sakral begründet) fand Brecht nicht nur dieses Tötungsmotiv wieder, sondern auch die angemessen überhöhte, ritualisierte Darstellungsform, die er übernahm - so bekam nach mehreren Vorstufen das Menschenopfer-Thema seine große, schreckliche, ultimative Form in der "Maßnahme": 1929 geschrieben, noch im Stande der Unschuld, was Stalin betrifft, Brechts einzige Tragödie.

Natürlich füllt das Jubiläum die Regale der Buchhandlungen mit frischem Stoff, auch mit einer handlichen sechsbändigen Volksausgabe der "Werke" und einem Paket von 20 Brecht-CDs. Aus dem Angebot ragen übergewichtig zwei Wälzer hervor, in denen zwei führende Brechtologen die Bilanz von Jahrzehnten der Forschung gezogen haben.

Das eine Buch, die "Brecht Chronik 1898-1956" von Werner Hecht, vermeldet auf 1300 Seiten in minutiöser Nahsicht und bewußt wertfrei, was von Tag zu Tag über den Gang der Brechtschen Dinge bekannt ist. Das andere Buch, die Biographie "Brecht & Co." von John Fuegi, zeichnet auf gut 1000 vollgepackten Seiten parteiisch und temperamentvoll ein Porträt des Autors und richtet, wie schon der Titel signalisiert, besondere Aufmerksamkeit auf seine Ko-Autoren, vor allem auf Elisabeth Hauptmann, doch auch auf die beiden Liebes- und Arbeitspartnerinnen des Exils, Margarete Steffin und Ruth Berlau.

Als Fuegi sein Buch 1994 in den USA veröffentlichte, rief er - wie das Renegaten so geht - bei der linientreuen Forschung wilden Protest hervor, selbst seine mangelnden Geographiekenntnisse wurden als Beweis für die Nichtigkeit seiner Thesen genutzt. Auch die deutsche Ausgabe nun, überdacht, überprüft, durch Belege erweitert, wird von den Nachlaßhütern und Gruftwärtern verdammt.

Niemand bestreitet, daß die "Dreigroschenoper" nur Brecht als Autor berühmt gemacht hat, obwohl auf dem Programmzettel der Uraufführung zutreffend der alte Verfasser John Gay stand und darunter: "Übersetzung: Elisabeth Hauptmann, Bearbeitung: Brecht". Von den Tantiemen gestand er ihr ein Achtel zu, dem Komponisten Kurt Weill zwei Achtel, fünf Achtel behielt er für sich. Schon in Klaus Völkers Brecht-Biographie von 1976 stand jedoch, daß der deutsche Stücktext "bis zu achtzig oder sogar neunzig Prozent" von Elisabeth Hauptmann stamme, und die eben erschienene Elisabeth-Hauptmann-Biographie mit dem Titel "Ich fragte nicht nach meinem Anteil" von Sabine Kebir liefert, auch zu anderen Stücken, noch über Fuegis Quellen hinaus neue Belege.

Fuegi wird weiter verketzert. Doch die Zeit arbeitet nicht mehr nur insgeheim für die Brecht-Frauen. Selbst in der Geburtstags-"Werke"-Ausgabe steht beispielsweise, als sei das eine Bagatelle, in den kleingedruckten Anmerkungen zu dem Stück "Der Jasager", Brecht habe dafür ein Manuskript von Elisabeth Hauptmann zu "rund 90 Prozent bis auf Ausnahmen wortwörtlich" übernommen.

Die Kontroverse um Prozentanteile wird sich noch lange nicht erschöpfen, und erst recht nicht die um unerfüllte Tantiemenansprüche. Denn Brecht - das Kind, das immer lieber den ganzen Kuchen für sich behielt - liebte auch in Geld- und Vertragsdingen diffuse Verhältnisse, und nicht nur den Frauen gegenüber. Kurt Weill, dessen Musik der "Dreigroschenoper" erst den Welthit-Kick gegeben hatte, fand sich beim Tantiemen-Gemauschel fast jedesmal übervorteilt, weshalb es zum Bruch kam; er nannte das später "die gute alte schweinische Brecht-Methode".

John Fuegis wirkliches, fern aller Rechthaberei ernsthaftes Thema heißt: In welchem Maß haben die mitarbeitenden Brecht-Frauen die großen Brecht-Frauenfiguren erst ermöglicht und ihnen Substanz gegeben? In seinen frühen machohaft-anarchischen Werken fielen Huren und willfährige Jungfrauen auf. Eine kämpferisch selbstbewußte Mädchengestalt wie die "Heilige Johanna der Schlachthöfe" war da nirgends vorgeprägt - und die literarische Vorlage für diese Johanna, kein Zweifel, lieferte Elisabeth Hauptmann mit ihrem eigenen Stück "Happy End".

Könnte der kreative Anteil der Exil-Gefährtin Margarete Steffin nicht ähnlich gewesen sein, von deren Sonetten manche früher als Brechtsche galten? Die vielsprachig begabte junge Berliner Proletariertochter war, wie niemand sonst, mit geradezu selbstmörderischer Hingabe (schon früh schwer lungenkrank) auf den Stationen des skandinavischen Exils von Dänemark über Schweden nach Finnland an Brechts Arbeit beteiligt. Sie könnte durchaus den Grundentwurf zu den so treuen, tapferen, aufopferungsbereiten Heldinnen der letzten großen Stükke, "Der gute Mensch von Sezuan" und "Der kaukasische Kreidekreis", gezeichnet haben.

Das hieße alles in allem vielleicht: So unentbehrlich die Auseinandersetzung mit dem Marxismus war, um dem egomanen Genie Distanz und den Blick für gesellschaftliche Zusammenhänge zu geben, so unentbehrlich waren die Ko-Autorinnen, um sein strenges Werk durch Mitgefühl zu wärmen, ihr Werkanteil wäre die berühmte Brechtsche Humanität. Wer weiß. Margarete Steffin starb 1941 unterwegs in Moskau, als Brecht und die Seinen quer durch die Sowjetunion nach Wladiwostok flohen, um das auf lange Zeit letzte Schiff zu erwischen, das nach Amerika ging.

Er ist in den USA - pendelnd zwischen der Familie in Los Angeles und New York, wo Elisabeth Hauptmann und Ruth Berlau, die ewige Steffin-Rivalin, mit kümmerlichen Jobs ihr Leben fristeten - nicht glücklich geworden. Die dänische Autorin und Regisseurin Ruth Berlau, die Brecht zuliebe ihren reichen Mann verlassen hatte, war willig, doch wegen ihres mangelhaften Deutschs nur begrenzt als Mitautorin von Nutzen. Brecht hat in Hollywood Brotarbeit gesucht, weiter gegen Hitler agitiert, doch als Theaterautor nichts bedeutendes Neues mehr hervorgebracht.

Helene Weigel und Elisabeth Hauptmann waren 1929 in die KP eingetreten, um sich zur Linken zu bekennen; Margarete Steffin und Ruth Berlau waren mit Leidenschaft in der Parteiarbeit aktiv; auch die Brecht-Komponisten Hanns Eisler und Paul Dessau (zeitweise mit Elisabeth Hauptmann verheiratet) gehörten prominent dazu. Dennoch konnte Brecht im Herbst 1947 dem Komitee für unamerikanische Umtriebe ehrlich erklären, er sei niemals Mitglied der kommunistischen Partei gewesen: All die anderen waren es für ihn. Doch so entschlossen, wie er am Tag nach dem Reichstagsbrand aus Hitler-Deutschland geflohen war, verließ er mit Helene Weigel am Tag nach dem Komitee-Verhör für immer McCarthys Amerika. Elisabeth Hauptmann und Ruth Berlau folgten nach; beide fanden - die eine als Dramaturgin, die andere als Fotografin - im "Berliner Ensemble" wieder zu ihm.

Natürlich stehen in der "Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe" nach wie vor manche Texte, die so nicht von Brecht geschrieben, sondern nur von ihm abgesegnet und als "Brecht" auf den Markt gebracht worden sind, und natürlich taucht aus dem immensen Nachlaß immer noch Unbekanntes auf - vor kurzem zum Beispiel ein Manuskript zur Poetik des Aristoteles. Es steckte, unbemerkt wohl seit den frühen fünfziger Jahren, in einem Aristoteles-Band in Brechts Bibliothek im (heute so genannten) Brecht-Haus an der Chausseestraße, wo er die letzten drei Jahre gelebt hat.

Der späte Fund erinnert an Brechts merkwürdigste Fehl-Selbsteinschätzung, an seinen Ehrgeiz, sich auch als bedeutender Theoretiker hervorzutun. Aus Abneigung gegen das bürgerliche Gefühlstheater, gegen Stanislawskis Psycho-Schauspielerei wie gegen den "sozialistischen Realismus" einerseits und andererseits aus Interesse an "epischen" Zwanziger-Jahre-Stilmitteln wie an Darstellungsformen des alten ostasiatischen Theaters, hatte sich seine unverwechselbar individuelle Theaterpraxis entwickelt - und um herauszustellen, daß er dies für das Großartigste seit Erfindung der Griechischen Tragödie hielt, nannte er sein wackliges Theoriegerüst die "nichtaristotelische Dramatik". Sie gilt sogar im eigenen Haus inzwischen als obsolet, im Theater am Schiffbauerdamm also, das der schon kränkelnde Meister endlich, zwei Jahre vor seinem Tod, mit dem "Berliner Ensemble" als wohlsubventioniertes eigenes Haus beziehen konnte.

Die tüchtige Witwe Weigel - erst sie kam in den Genuß des rasch wachsenden, riesigen Weltruhms - hat als Intendantin dieses Theater zum Welt-Tempel der ordnungsgemäßen Brechtpflege hochgebracht, aber auch schon die Stil-Erstarrung im Mausoleumsmäßigen eingeleitet. Seit der "Wende", die zwangsläufig auch eine Brecht-Wende war, ist das "Berliner Ensemble" in anfangs schleichender, nun schon galoppierender Selbstauflösung vorangeschritten. Wer weiß, wenn die Jubelfeiern überstanden sind, wird es sich vielleicht zur wohlverdienten Ruhe betten dürfen.

Das bescheidene Berliner Brecht-Haus, zu Fuß nur fünf Minuten vom Theater entfernt, ist rechtzeitig zum Jubiläum renoviert worden: zwei lichte Arbeitsräume, daneben Brechts schmales Schlafzimmerchen mit dem schmalen Bett, von dem die Weigel, als es ans Sterben ging, drei Nebenfrauen wegscheuchen mußte, um einen letzten Augenblick mit ihm allein zu sein. An einem Haken Stock und Mütze, über dem Bett eine Chagall-Miniatur, Geschenk der ersten Zürcher und Münchner "Mutter Courage" Therese Giehse.

Die Giehse hat Brecht in den frühen zwanziger Jahren auch Thomas Manns Bemerkung hinterbracht, nachdem der erstmals etwas von Brecht gelesen hatte: "Sieh mal einer an, das Scheusal hat Talent!" Der bourgeoise Großdichter Thomas Mann ist über die zwanziger Jahre und das gemeinsame kalifornische Exil hinaus Brechts liebster Lieblingsfeind geblieben. Seine letzte und größte Ehrung, den Stalin-Friedenspreis, erhielt Brecht 1955 - und er erhielt ihn als Lückenbüßer, weil der Wunschkandidat der Russen dankend abgelehnt hatte: Thomas Mann.

Auf dem Bertolt-Brecht-Platz setzen sich noch immer Touristen auf die bronzene Bank neben den überlebensgroßen bronzenen Denkmals-Brecht und lassen sich fotografieren. Die Theaterfassade dahinter schmückt das "Berliner Ensemble" mit wechselnden Brecht-Sprüchen, zum Beispiel mit einem von 1922, der wie ein aktueller Gruß klingt: "Ich bin überzeugt, daß die Brechthausse ebenso auf einem Mißverständnis beruht wie die Brechtbaisse, die ihr folgen wird. Inzwischen liege ich in der Horizontalen, rauche und verhalte mich ruhig."



DER SPIEGEL 1/1998
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