Der Turm (Tellkamp)

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Der Turm ist ein Roman von Uwe Tellkamp, der im Jahr 2008 im Suhrkamp Verlag erschien. Als erzählende Stimmen fungieren drei miteinander verwandte Charaktere aus einem überwiegend von Bildungsbürgern bewohnten Villenviertel Dresdens in den letzten sieben Jahren der Deutschen Demokratischen Republik bis zum Mauerfall. Der Roman enthält Aspekte des Gesellschafts- und des Schlüsselromans sowie des Historischen Romans. Er schildert dabei verschiedene Milieus der DDR und deren Zusammenhang wie Jugendbewegung, Bildungswesen, Militär, Gesundheitswesen, den Kreis der Literaturschaffenden sowie Nachbarschaft und Familie.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Handlung

Dresden im April 1985, Blick von Blasewitz über das „Blaue Wunder“ nach Loschwitz
Dresden im April 1982, Prager Straße
Ruine der Frauenkirche im Februar 1985
Ruine des Residenzschlosses im Oktober 1985
Plakate der Demonstrationen in Dresden im Herbst 1989

Die Handlung des Romans spielt zwischen dem 4. Dezember 1982 und dem 9. November 1989 in der DDR, vor allem in Dresden. Im Zentrum stehen die bildungsbürgerlichen Bewohner des Villenviertels oberhalb der Elbe in Loschwitz-Weißer Hirsch rund um die Plattleite, im Buch die Turmstraße. Die Handlung, die sich auf fast 1000 Seiten erstreckt und kaleidoskopartig verschiedene Episoden mit Hunderten Figuren aneinanderreiht, wird aus der Sicht von drei Protagonisten dargestellt: des EOS-Schülers und späteren NVA-Unteroffiziers Christian Hoffmann, seines Vaters Richard Hoffmann (er ist Oberarzt in der chirurgischen Klinik der Medizinischen Akademie Dresden) und seines Onkels Meno Rohde, eines studierten Biologen, der als Lektor eines renommierten Verlages tätig ist. Der Roman besteht aus den zwei Buchteilen Die pädagogische Provinz und Die Schwerkraft.

Christian Hoffmann, zu Beginn der Romanhandlung 17 Jahre alt, will Arzt werden. Zu diesem Zweck muss er nicht nur ein exzellentes Abitur ablegen, sondern sich im Sinne des Sozialismus gesellschaftlich engagieren. Um seinen Studienplatz zu sichern, ist er de facto gezwungen, seinen Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee durch Freiwilligen Wehrdienst auf drei Jahre zu verlängern. Einerseits empfindet er eine innere Distanz zum System der DDR (wie die meisten Angehörigen seines Milieus), andererseits aber will er nicht auffallen. Trotzdem neigt er zu „Dummheiten“. Bei einem Wehrkundelager wird bei ihm ein Roman aus der NS-Zeit gefunden, und er wird fast relegiert; während seiner NVA-Zeit macht er sich nach dem Unfalltod eines Kameraden durch Äußerungen gegenüber seinen Vorgesetzten strafbar, was ihm einen Aufenthalt im NVA-Militärgefängnis Schwedt, Zwangsarbeit und eine Dienstverlängerung von zwei Jahren einbringt. Dennoch gelingt es Christian, der bei der NVA zunächst als „Muttersöhnchen“ gegolten hat, zum unauffälligen „Nemo“ („Niemand“) zu werden. Als er am 3. Oktober 1989 einen Polizeieinsatz unterstützen soll, bei dem seine Mutter verprügelt wird, verweigert er sich dem System, wird aber nur mit Urlaub „bestraft“.

Richard Hoffmann, Christians Vater, ist im Beruf erfolgreich. Am Beginn der Handlung feiert er seinen 50. Geburtstag und erhält dabei von den Gratulanten, d.h. seiner Familie und seinen Kollegen, Geschenke, die in der Mangelwirtschaft der DDR schwer erhältlich sind. Zum Verhängnis wird ihm später eine vor Jahrzehnten begangene Jugendsünde, die Denunziation seines Freundes Manfred Weniger beim Ministerium für Staatssicherheit. Diese macht ihn ebenso erpressbar wie seine Affäre mit Josta Fischer, einer Sekretärin in Richards Krankenhaus. Eine weitere Affäre mit Christians Freundin Reina unterminiert seine Vorbildrolle Christian gegenüber. Richard Hoffmann wird von Manfred Weniger geschnitten und durch die prekärer werdende Versorgungslage in der DDR zermürbt. Staatsorgane zerstören seine Kapitalanlage, einen Oldtimer, weil er ihnen nichts über die geplante Flucht eines Ingenieurs und dessen Frau mitgeteilt hat. Dadurch wird er psychisch krank und muss stationär behandelt werden. Seine Frau Anne hat ihm zu diesem Zeitpunkt seine Eskapaden verziehen und verteidigt ihn; sie selbst ist in der Oppositionsszene aktiv geworden. Ganz am Schluss, im Oktober 1989, schließt sich Richard Hoffmann den Protestierenden an.

Meno Rohde, Sohn aus „rotem Adel“, d.h. von Kommunisten, die während der NS-Zeit in Moskau geschult wurden, und Bruder von Richard Hoffmanns Ehefrau Anne, hat Biologie studiert. Da er wegen seiner Nähe zur evangelischen Kirche keine Karriere als Wissenschaftler machen konnte, wandte er sich beruflich der Literatur zu. Er arbeitet in den 1980er Jahren als Lektor in einem Dresdner Verlag: Einerseits muss er dabei die Vorgaben der Kulturbürokratie beachten, andererseits steht er menschlich den Autoren nahe, die von der Zensur drangsaliert werden. Aus seiner Sicht wird der Kulturbetrieb der DDR genau beschrieben. Dass die Flucht in eine Nischengesellschaft keine Lösung ist, erkennt Meno genau; allerdings vermeidet auch er es, „Farbe zu bekennen“. Trotzdem wird auch er als „bloßer Beobachter“ am 3. Oktober 1989 von Polizisten verprügelt. Meno Rohde führt ein zumeist in poetischer Sprache geschriebenes Tagebuch, aus dem immer wieder längere Passagen im Wortlaut in den Roman hineinmontiert sind.

In Der Turm wird das bildungsbürgerliche Milieu, dem auch Uwe Tellkamp entstammt, genau und durchaus selbstkritisch beschrieben. Das Bürgertum werde durch die „süße Krankheit Gestern“ vergiftet, erkennt nicht nur Meno Rohde, sondern auch Hans Hoffmann, Toxikologe und Christians Onkel. Die Zeit scheint stillzustehen, wie bei einer „Schallplatte mit Sprung“ (Christians Wahrnehmung), obwohl alles auf die Wende am 9. November 1989 zuläuft.

Der „Bürgerliche Realismus“ der ersten Romanhälfte geht in der zweiten Hälfte in eine Art „Sozialistischen Realismus“ (allerdings ohne kommunistische Tendenz) über: Die Unzulänglichkeiten in der Produktion, in der Infrastruktur (Versorgung, Verkehr und Gesundheitswesen) und in der NVA rücken hier in den Vordergrund. Allerdings werden realistische Szenen oft durch märchenhaft-surrealistische Episoden abgelöst (z.B. die nächtliche Proust-Lektüre als „Zwangsarbeit“ für NVA-Arrestanten[1]).

[Bearbeiten] Tellkamps Erzählstil

„Der Turm“ ist ein Montageroman. Formal verschiedenartige Textteile mit unterschiedlichen Themen werden, oft nur durch eine Leerzeile voneinander getrennt, aneinandergereiht, wodurch der Roman einem Mosaik oder einem Puzzle gleicht. An einigen Stellen, vor allem zum Schluss des Romans hin, geht die Darstellung in eine Art Bewusstseinsstrom über, der immer wieder durch kurze Einblendungen (wie das Klicken eines Feuerzeugs) unterbrochen wird. Diese Technik hat Uwe Tellkamp aus dem Auszug aus seinem Roman „Der Schlaf in den Uhren“ übernommen, mit dem er 2004 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hat.

Überwiegend ist der Roman im personalen Erzählstil formuliert, indem äußere Handlungen, aber auch Vorgänge im Inneren der drei Hauptfiguren aus deren Sicht dargestellt werden. Dabei gibt es Passagen, in denen Gespräche in wörtlicher Rede wiedergegeben werden, aber auch die Technik der erlebten Rede wird oft angewandt.

Immer wieder werden in die Darstellung Tagebucheintragungen Meno Rohdes in Kursivdruck hineinmontiert, in denen Meno als Ich-Erzähler auftritt.

Auch die verwendete Syntax variiert: Es gibt Passagen mit extrem langen, in Bildern schwelgenden Sätzen voller Semikola, daneben aber auch Abschnitte wie das Kapitel 57, das aus fünf Wörtern besteht („Reina?“ „Richard?“ „-Ich dich auch.“). Besonders bei der Darstellung verfänglicher Situationen arbeitet Tellkamp mit Auslassungen, wie beispielsweise im Kapitel 20, in dem ein Gespräch zwischen Richard Hoffmann und einem Vertreter des Ministeriums für Staatssicherheit dargestellt wird, bei dem nur die Worte des Stasi-Mannes wiedergegeben werden und Richards Wortbeiträge jeweils durch eine Leerzeile ersetzt werden.

Die verwendete Sprache der Bewohner des „Turm“ ist voller „Kunigundenwörter“, wie es Meno Rohde selbstironisch feststellt, der meint, Wörter wie „hanebüchen“ würden zwar von seinen Nachbarn, nicht aber von den Autoren der Bücher benutzt, die er zu zensieren habe. An einigen Stellen benutzt Tellkamp exakte fachsprachliche Begriffe, beispielsweise über die Papierproduktion. Bei der Wiedergabe der Äußerungen der Staatsorgane werden auch krasse, oft vulgäre Formulierungen zitiert (Beispiel: „Ihr sauberer Herr Vater geht fremd in seiner Freizeit. Das wissen Sie nicht, aber wir wissen es. Der bumst Ihre Freundin, das Fräulein Kossmann. […] Sindse baff, was? Könnse mal sehen.“[2]). Auch den offiziellen Jargon von Parteifunktionären und „gläubigen“ Anhängern des Systems ahmt Uwe Tellkamp nach, indem er ihn in wörtlicher Rede zitiert oder paraphrasiert. Einige Figuren sprechen sächsischen Dialekt; ihre Äußerungen werden lautgetreu wiedergegeben.

[Bearbeiten] Interpretationen

[Bearbeiten] Bedeutung des Titels

In einem Interview mit Volker Hage[3] beantwortet Uwe Tellkamp die Frage nach der Bedeutung des Romantitels: „Turm ist zunächst einmal die Bezeichnung für das Stadtviertel, in dem der Roman spielt. Dann ist an den Elfenbeinturm gedacht, auch an die ‚Turmgesellschaft‘ natürlich. Aber man kann ebenso an den Babylonischen Turm denken, der einstürzt, an die Sprachverwirrung, die am Ende der DDR vorherrschte, die Kakophonie.“

Einige Interpreten sehen einen Zusammenhang zwischen dem Nomen „Turm“ und dem Verb „türmen“: Das im Roman beschriebene Bildungsbürgertum versuche in eine Art „innere Emigration“ hinein- und damit aus der Realität der DDR-Gesellschaft herauszufliehen, was aber nicht gelingen könne, da schließlich jeder zumindest „einkaufen“ müsse.[4]

[Bearbeiten] Entschlüsselung des Schlüsselromans

Nach Ansicht von Andreas Platthaus[5], Sabine Franke[6] und Beatrix Langner[7] handelt es sich bei Tellkamps Roman Der Turm um einen Schlüsselroman. Die drei Journalisten entschlüsseln die Namen einiger Romanfiguren, und zwar sei:

Mit der Beschreibung des wichtigen westdeutschen Kritikers Wiktor Hart ist ganz offensichtlich Marcel Reich-Ranicki gemeint, denn Wiktor Hart war sein Autoren-Pseudonym im Warschauer Ghetto. Auch endet der Abschnitt, die Schlussformel des Literarischen Quartetts abwandelnd, mit den Worten „Er hilft uns wirtschaften, wenn er lobt, er hilft uns wirtschaften, wenn er verreißt, wir sehen betroffen diese Frage offen, wenn er schweigt.“[8]

Dem Anwalt Joffe, der in Buch 1, Kapitel 34 (Die Askanische Insel) auftritt, liegt augenscheinlich der (Ost-)Berliner Anwalt Dr. Friedrich Wolff zugrunde. Im Roman moderiert Joffe die Fernsehsendung „Paragraph“. Wolff war tatsächlich Moderator der DDR-Fernsehsendung „Alles was recht ist“. Im Schriftlogo dieser Sendung verschmolzen die „S“ von „Alles“ und „was“ zu einem auffälligen Paragraphen. Joffe ist zudem ein Nachname jüdischer Herkunft, womit Tellkamp ebenfalls einen Hinweis auf Wolff gibt, dessen Vater Jude war. Im Zusammenhang mit Joffe wird auch ein Hinweis auf die Verbindung zwischen dem literarischen Anwalt Sperber und dem realen Anwalt Vogel gegeben, wenn Joffe Meno Rohde die „Fernwärmeleitungen“ (wohl ein Bild für die DM-Zahlungen aus der Bundesrepublik an Vogel) erläutert: „Sie haben die Rohre gesehen. Nun, das sind Fernwärmeleitungen. Sie lecken ein wenig, es weicht Wärme ab, das ist alles. Im Winter haben wir hier schneefrei - und deswegen auch manch seltenen Vogel zu Gast.“[9]

Mit der Schriftstellerin Judith Schevola könnte Angela Krauß gemeint sein.

Nach der Logik dieser „Entschlüsselungen“ müsste Christian Hoffmann Uwe Tellkamps Alter Ego sein. Tatsächlich haben die Biographien beider Männer viele Berührungspunkte. Christian Hoffmann ist drei Jahre vor Uwe Tellkamp geboren; durch das Geburtsjahr 1965 kann Christians Dienstzeit bei der NVA trotz der Verlängerung im November 1989 enden. Vom Geburtsjahrgang her wäre Fabian Hoffmann, Christians Cousin, oder Christians Bruder Robert eher geeignet, als Tellkamps Alter Ego zu fungieren. Dass er selbst in Schwedt arrestiert gewesen sei, behauptet Tellkamp nicht. Dazu stellt Stephan Rauer kommentierend fest: „Tellkamp und Christian haben beide am 28.10. Geburtstag, Tellkamp im Jahre 1968, Christian 1965. Exakt diese drei Jahre musste Tellkamp aber nicht mehr absitzen. Etwas böse gesagt: hier wurde ein wenig ›nachheroisiert‹. Im Zentrum dieses deutlich, von Tellkamp schon in der Klappenvorbemerkung auch nicht negierten, autobiographischen Romans steht also eine nicht autobiographische Opfergeschichte.“[10]

Erfahrungen des bei Drucklegung des Romans fast 40 Jahre alten Autors Tellkamp sind nicht nur in die Darstellungen Christian Hoffmanns, sondern auch in die seines Vaters Richard (Tellkamp war bis 2004 als Arzt tätig) und Meno Rohdes eingeflossen (nur ein reifer Mann, der den Literaturbetrieb von innen her kennt, kann diesen so kenntnisreich beschreiben, wie das im Roman geschieht). Uwe Tellkamp soll gesagt haben, er könne „allen Lesern, die behaupten, ich erzählte nur autobiographisch und Christian wäre mein Alter Ego, antworten: Wieso? Da habt ihr doch den Namen Tellkamp im Buch. Und der hat mit den Hoffmanns gar nichts zu tun.“[11] Tatsächlich findet sich im Roman anlässlich eines Stromausfalls in der Klinik Richard Hoffmanns die Bemerkung „...Tellkamp ist informiert...“. Allgemein stellt Uwe Tellkamp mit Bezug auf seinen Roman fest: „Jede Figur ist aus verschiedenen anderen zusammengesetzt, hat aber reale Vorbilder.“[12]

Entschlüsselt werden nicht nur Figuren des Romans, sondern auch Handlungsorte:[13] Das „Tausendaugenhaus“ beispielsweise liege an der Hietzigstraße; der Zaun, der auf dem Cover der Originalausgabe des Romans abgebildet sei, gehöre zu dieser Villa. Vorbild für das Haus „Karavelle“ sei die Jugendstilvilla, in der Uwe Tellkamp aufgewachsen ist. Mit „Waldbrunn“, der „Hauptstadt des Osterzgebirges[14], dem Ort, an dem Christian Hoffmann die EOS besucht, ist offensichtlich Dippoldiswalde gemeint.

Generell trügt der Eindruck, man brauche nur Namen von Personen und Orten, die in dem Roman vorkommen, zu entschlüsseln und erhalte dadurch zuverlässige Informationen über die Realität der Jahre 1982–1989: Auf der nicht eingenordeten Landkarte, die auf den Innenseiten des Buchumschlags der Originalausgabe abgedruckt ist, ist die Semperoper mitten in die Elbe hineinplatziert worden, und Standseilbahn und Bergschwebebahn, in Wirklichkeit weniger als einen Kilometer voneinander entfernt, sollen demnach angeblich im Südwesten und im Nordosten Dresdens liegen. Weitere Veränderungen weist Andreas Platthaus nach.[11] Es zeigt sich also, dass Tellkamps „innere Wirklichkeit“ nicht mit der Topografie des realen Dresden identisch ist. Ebenso frei erfunden ist die Behauptung, man habe schon zu DDR-Zeiten Kraftfahrzeuge aus Dresden am Kennzeichen von solchen aus „Waldbrunn“ (Dippoldiswalde) unterscheiden können,[15] obwohl beide Orte zu DDR-Zeiten im Bezirk Dresden (Anfangsbuchstaben: „R“ und „Y“) lagen.

Auch ist zu berücksichtigen, dass Tellkamps Texte „works in progress“ sind: Er verändert, für den Leser oft unbemerkt, im Laufe der Zeit die fingierte „Wirklichkeit“, über die er schreibt. So heißt der Cousin von Richard Hoffmann in der Vorabveröffentlichung des ersten Kapitels des Romans Der Turm in den Losen Blättern beispielsweise noch Buchmeister (wie in dem Romanauszug aus Der Schlaf in den Uhren), und Frau Zwirnevaden hat laut einem Tellkamp-Text vom 12. Februar 2005[16] ein Atelier im dritten, laut Der Turm hingegen[17] im vierten Stock.

[Bearbeiten] „Sprechende Namen“

Mit Hilfe der Namenswahl verschlüsselt Uwe Tellkamp nicht nur den „Klarnamen“ der Personen, die er (möglicherweise) tatsächlich meint, sondern er wählt oft gezielt „sprechende Namen“ für seine Figuren.

[Bearbeiten] Literarische und künstlerische Vorbilder

Die folgenden Autoren und Musiker sollen nach Angaben von Interpreten die inhaltliche und formale Gestaltung des Romans beeinflusst haben:

In ihrem „Sorgfältig abgeschrieben“ betitelten Artikel wirft Dorothea Dieckmann von der „Neuen Zürcher Zeitung“ Uwe Tellkamp indirekt ein Plagiat vor: Die Ausführungen über das Antiquariat Paul Dienemann habe Tellkamp nahezu wörtlich aus dem 2003 veröffentlichten Band Die letzten Mohikaner von Jens Wonneberger abgeschrieben.[28] Tellkamp konterte den Vorwurf mit der Anmerkung, dass Wonneberger das, was er darstelle, nicht erfunden habe, sondern beide Autoren sich auf ihre Weise auf reale Vorgänge in dem Antiquariat bezögen.[29] Bereits im März 2009 hatte Tellkamp in einem Interview mit der Berliner Zeitung gesagt: „Gerade das Antiquariat kenne ich noch sehr gut, auch den Inhaber.“[30]

Laut MDR figaro soll Tellkamp auch Passagen aus Stefan Wachtels Buch „Delikt 220“ über das Leben in der NVA abgeschrieben haben.

[Bearbeiten] Der Roman im Kontext von Tellkamps Gesamtwerk

[Bearbeiten] Die Erzählung „Der Schlaf in den Uhren“ und der Roman „Der Turm“

Die Erzählung Der Schlaf in den Uhren, die bereits 2004 veröffentlicht wurde und mit deren Vortrag Uwe Tellkamp den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, weist eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten mit dem Roman Der Turm auf.

Fabian und Muriel sind offenbar dieselben Personen wie das Zwillingspaar Fabian und Muriel Hoffmann in Der Turm; auch die beiden anderen „Stimmen“ der Erzählung, Arno und Lucie Krausewitz, kommen in dem Roman vor. „Niklas Buchmeister“, der Bücher- und Schallplattenfreund, ist offenbar mit Niklas Tietze in Der Turm identisch. In einer frühen Fassung des ersten Kapitels des Romans ist noch der Name „Buchmeister“ zu lesen[31], wo in der Endfassung „Tietze“ steht.

Der Titel Der Turm. Der Schlaf in den Uhren für die Landkarte, die sich auf der inneren Umschlagseite der Originalausgabe des Romans Der Turm befindet, deutet darauf hin, dass der Stoff des Romans Der Turm durch einen zweiten Roman ergänzt werden soll. Hierfür spricht auch Tellkamps Äußerung in einem Interview mit dem „Spiegel“, wonach Der Turm „Teil eines größeren Romanprojekts“ sei.[32] Beatrix Langner bezeichnet den „Romanauszug“ genannten Text als „eine Vorstufe“ des Romans „Der Turm“[7].

[Bearbeiten] „Schwarzgelb“ als MDR-Beitrag und als Kapitel in „Der Turm“

Zum 800. Geburtstag der Stadt Dresden schrieb Uwe Tellkamp einen Text, der von MDR Figaro am 31. März 2006 mit dem Titel schwarzgelb gesendet wurde[33] Eine überarbeitete Fassung dieses Beitrags (wichtigster Unterschied: die Schwester an der Hand des Vaters ist nicht Muriel, sondern Anne) findet sich als gleichnamiges Kapitel (Kapitel 28) in dem Roman. Die Verwendung des Namens „Muriel“ in der Erstfassung ist ein Hinweis darauf, dass die Szene ursprünglich in den geplanten Roman Der Schlaf in den Uhren eingebaut werden sollte.

Dafür spricht auch, dass in dem Kapitel eine Frau Zwirnevaden erwähnt wird, die Scherenschnitte anfertigt.[17] Eine Episode mit dieser Frau hat Uwe Tellkamp am 12. Februar 2005 aus Anlass des 60. Jahrestags der verheerenden alliierten Bombenangriffe auf Dresden in der „Welt“ unter dem Titel Märchen von den Scherenschnitten. Frau Zwirnevaden, die Zeit und der 13. Februar 1945 veröffentlicht.[16] Auch in dieser Fassung wird der Ich-Erzähler von Muriel begleitet. An keiner Stelle im Roman „Der Turm“ hingegen gibt es eine Konstellation, in der Christian und Muriel Hoffmann als Paar auftreten; die Konstellation „Muriel und ich“ bleibt den Textfragmenten aus dem Komplex Der Schlaf in den Uhren vorbehalten, wobei „ich“ für Muriels Bruder Fabian steht.

[Bearbeiten] Fortsetzung des Romans „Der Turm“

Auf die Frage: „Ihr Buch endet mit dem 9. November 1989 und einem Doppelpunkt. Wann geht es weiter?“ antwortete Uwe Tellkamp in einem Interview, das am 1. Oktober 2009 veröffentlicht wurde: „Wenn die Musen geben, der Wirbel sich gesenkt hat und die Ruhe zurückkehrt, in der man hört, was die Figuren auf dem weißen Papier dem Autor, ihrem Geburtshelfer, erzählen.“[34]

Der Nachfolgeroman soll nach Aussagen Uwe Tellkamps die Zeit zwischen dem 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls, und dem 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, behandeln.[35] Der Roman soll den Titel „Lava“ tragen. Was mit diesem Buchtitel gemeint ist, wird in einem Artikel deutlich, den Uwe Tellkamp am 3. April 2010 aus Anlass von Helmut Kohls 80. Geburtstag zum Thema „Wende in der DDR 1989“ veröffentlichen ließ:

Ein Vulkan war ausgebrochen, Lava rann über Wege, in Abgründe, zäh, heiß, vernichtend, doch auch fruchtbar.[36]

[Bearbeiten] Rezeption

Bis zum März 2009 wurden laut SUPERillu 450.000 Exemplare des Romans verkauft.[37]

Im Dresdner Stadtteil „Weißer Hirsch“ hat die Zahl der Touristen-Führungen nach der Veröffentlichung des Romans Der Turm stark zugenommen. Gästeführer tragen dabei lange Listen mit sich, mit deren Hilfe sie jedem Haus im Roman mit Seitenzahl ein echtes Gebäude mit Straßennamen und Hausnummer zuordnen können.[13]

Robert Schröpfer stellt verwundert fest, dass „die Bürger der Stadt [Dresden] dem Schriftsteller, der ihnen mit seinem Roman ein Denkmal setzt, mit einer seltsamen Mischung aus Misstrauen, Missgunst und Miesepetrigkeit“ begegneten.[38]

Es kristallisiert sich heraus, dass die Bewertung des Romans maßgeblich davon abhängt, ob man den folgenden Ausführungen Tilman Krauses und vor allem den darin enthaltenen Wertungen zuzustimmen bereit ist:

Der Mann, der sich an Liebesmahlen und Gelagen nicht beteiligt, hat mit dem ‚Turm‘, der jetzt den Deutschen Buchpreis zugesprochen bekam, wahrscheinlich den Roman des Jahrzehnts geschrieben. Den ultimativen Roman über die DDR, diese lächerliche sowjetische Satrapie auf deutschem Boden. Und zwar aus der Sicht derer, die nicht eine Sekunde daran zweifelten, dass sie dagegen waren. Das allein ist schon, nach all dem Wischiwaschi der Christa Wolfs, Volker Brauns, Christoph Heins und tutti quanti, eine nahezu erlösende Tat. So klar antikommunistisch, so voller schneidender Verachtung für das Proleten- und Kleinbürgertum, das 40 Jahre lang im Ostteil dieses Landes sein Gift verspritzen durfte, hat noch keiner, der aus diesen Breiten kommt, den Stab gebrochen.[39]

Im September 2010 erlebte die Bühnenfassung des Romans am Staatsschauspiel Dresden ihre Uraufführung in der Regie von Wolfgang Engel, im November 2010 folgte am Staatstheater Wiesbaden eine zweite Fassung von Tilman Gersch.

[Bearbeiten] Auszeichnungen

Der Nordkurier in Neubrandenburg verlieh Uwe Tellkamp gemeinsam mit der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft den Uwe-Johnson-Preis 2008 mit der Begründung, der Roman entfalte ein „facettenreiches, in den Lebensläufen zahlreicher Figuren gebrochenes Panorama der letzten sieben Jahre der DDR“.[40]
Im Oktober 2008 wurde der Roman mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. In der Begründung hieß es: „Uwe Tellkamps großer Vorwenderoman ,Der Turm’ entwirft in einer Fülle von Szenen, Bildern und Sprachformen das Panorama einer Gesellschaft, die ihrem Ende entgegentaumelt. Am Beispiel einer bürgerlichen Dresdner Familie erzählt er von Anpassung und Widerstand in einem ausgelaugten System. Der Roman spielt in den verschiedensten Milieus, unter Schülern, Ärzten, Literaten und Politkadern. Uwe Tellkamp schickt seinen rebellischen Helden Christian Hoffmann auf eine Höllenfahrt, aus seiner Enklave in den Militärdienst bis zum Strafvollzug der NVA. Den Lesern erschließen sich wie nie zuvor Aromen, Redeweisen und Mentalitäten der späten DDR. Unaufhaltsam treibt das Geschehen auf den 9. November zu“.[41]

2009 wurde Uwe Tellkamp mit dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet.

Am 6. Dezember 2009 wurde Tellkamp für den Roman mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. Bernhard Vogel, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung begründete die Auswahl Uwe Tellkamps mit der „außergewöhnliche[n] epische[n] und ästhetische[n] Qualität“ seines Buches „Der Turm“ und damit, dass sich der Roman gegen „ethische Indifferenz und politische Ostalgie“ stelle und für die „Freiheit und Würde des Menschen“ stehe.[42] Zusammenfassend stellt die Jury der Konrad-Adenauer-Stiftung fest: Uwe Tellkamps Der Turm hat als Gesellschafts-, Bildungs- und Zeitroman eine herausragende politische Bedeutung zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Es ist ein Zeugnis der literarischen Erinnerungskultur, das Geschichte und Fiktion verbindet und aufhebt, was nicht vergessen werden darf vom letzten Jahrzehnt der DDR. Zugleich ist es ein Dokument der Freiheit und Würde des Individuums gegen die Vereinnahmungsversuche einer Erziehungsdiktatur.[43]

[Bearbeiten] Literatur

[Bearbeiten] Textausgaben

[Bearbeiten] Sekundärliteratur

[Bearbeiten] Weblinks

[Bearbeiten] Einzelnachweise

  1. Tellkamp: Der Turm, S. 858
  2. Tellkamp: Der Turm, S. 798f.
  3. Am Ende herrschte Sprachverwirrung. „Spiegel online“ 17. Oktober 2008
  4. Martin Ebel: Am Ende steht ein Doppelpunkt 21. September 2008
  5. Andreas Platthaus: Die Zeit ist des Teufels. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 20. September 2008
  6. Sabine Franke: Im Dresdner Musennest. In: Frankfurter Rundschau. 25. September 2008
  7. a b Beatrix Langner: Utopia, zeitgeschwärzt. Erzählte Geschichte in Uwe Tellkamps Turmgesellschaft. In: Neue Zürcher Zeitung. 11. Oktober 2008.
  8. Tellkamp: Der Turm, S. 473
  9. Tellkamp: Der Turm, S. 469
  10. Stephan Rauer: Das Einweckglas. In: Kritische Ausgabe. 24. Februar 2009
  11. a b Andreas Platthaus: Zeitverschiebung: Uwe Tellkamps Dresden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Oktober 2008.
  12. Norbert Jachertz / Gisela Klinkhammer: „Das ganze Thema ist immer noch radioaktiv“. Deutsches Ärzteblatt. 6.März 2009
  13. a b Führungen durchs Dresdner Villenviertel sehr beliebt. Uwe Tellkamp plant Fortsetzung zu «Der Turm» PR-inside.com 22. Juni 2009
  14. Tellkamp: Der Turm, S. 114
  15. Tellkamp: Der Turm, S. 112
  16. a b Uwe Tellkamp: Märchen von den Scherenschnitten. Frau Zwirnevaden, die Zeit und der 13. Februar 1945 Die Welt. 12. Februar 2005
  17. a b Tellkamp: Der Turm, S. 350f.
  18. a b Uwe Tellkamp: Die deutsche Frage der Literatur: Was war die DDR?. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 16. August 2007.
  19. http://www.ingoschulze.com/texte/nacht.html
  20. So eine Spirale willst du auch einmal schreiben. Ein Gespräch mit Uwe Tellkamp von Michael Braun. Frankfurter Rundschau. 7. Juli 2004
  21. Tellkamp: Der Turm, S. 925
  22. Uwe Tellkamp: Abenteuer in Digedanien. In: Märkische Allgemeine vom 14. Mai 2005
  23. Norbert Jachertz / Gisela Klinkhammer: „Das ganze Thema ist immer noch radioaktiv“. Deutsches Ärzteblatt. 6. März 2009
  24. Tellkamp: Der Turm, S. 950
  25. Tellkamp: Marketing-Maschinerie hat meinem Buch geholfen. Uwe Tellkamp im Gespräch mit Susanne Führer. Deutschlandradio. 14. Oktober 2008
  26. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Buchpreisträger Tellkamp im Interview: Es ist nicht nur mein Preis. 14. Oktober 2008
  27. Durs Grünbein: Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen. Suhrkamp. Frankfurt am Main. 2001. S.88
  28. Dorothea Dieckmann: Sorgfältig abgeschrieben. Neue Zürcher Zeitiung. 19. Dezember 2009
  29. Streit um Tellkamps "Turm". MDR figaro. 11. Januar 2010
  30. Martin Jehle: Es war wie ein böses Märchen, Berliner Zeitung vom 13. März 2009 (gesehen am 5. Mai 2010)
  31. Uwe Tellkamp: Vorabdruck des Kapitels Auffahrt. In: Lose Blätter, Heft 32/2005, S. 933-939, hier: S. 936
  32. Am Ende herrschte Sprachverwirrung. Spiegel online. 17. Oktober 2008
  33. Uwe Tellkamp: schwarzgelb
  34. Bund Deutscher Chirurgen: "Was halten Sie vom Abenteuerurlaub in ehemaligen NVA-Kasernen?". Interview zum Mauerfall mit Uwe Tellkamp, Autor und Chirurg. 1. Oktober 2009
  35. Silke Pfeiffer: Auferstanden aus Worten. 2009
  36. Ein Turm namens Kohl. Schriftsteller Uwe Tellkamp zum 80. Geburtstag des Altkanzlers. Bild. 3. April 2010
  37. Uwe Tellkamp »Der Turm«. In: SUPERillu. 8. März 2009
  38. Robert Schröpfer: Dresden tut sich schwer mit Uwe Tellkamp und seinem preisgekrönten Wenderoman „Der Turm“. Tagesspiegel. 13. November 2008
  39. Tilman Krause: Die Kraft zu widerstehen. Die Welt. 15. Oktober 2008
  40. Uwe-Johnson-Preis an Uwe Tellkamp. In: Ruhr-Nachrichten vom 21. Juni 2008
  41. Börsenverein des Deutschen Buchhandels: Uwe Tellkamp erhält den Deutschen Buchpreis 2008 für seinen Roman „Der Turm“
  42. Uwe Tellkamp erhält Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung. In: Freie Presse. 28. Januar 2009
  43. Konrad-Adenauer-Stiftung: Uwe Tellkamp erhält den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2009
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